Protektor – Leseprobe – Kapitel 8

Achtes Kapitel: Rentnergedeck (Opa geht ins Licht)

Ich fuhr so schnell ich es mir zutraute, was vermutlich zu schnell war, denn ich nahm hier einen Bordstein mit, wurde dort in die Gegenspur getragen und bemerkte den Zebrastreifen erst, als ich drüberfuhr. Vielleicht hatten auch die Schnäpse von meiner Diskotour etwas mit meinem sportlichen Fahrstil zu tun.
»Fahr langsamer«, ermahnte ich mich. 666 und seine Informationen über Veronique würden mir nicht weglaufen. Ich nahm den Fuß vom Gas, aber die Anspannung war zu groß, ich wurde zunehmend wieder schneller. Nun war ich unter optimalen Umständen schon kein guter Autofahrer, und so wunderte es mich nicht wirklich, dass plötzlich rot-weiße Kegel an der Windschutzscheibe vorbeiflogen. Aber es erschrak mich trotzdem. Ich ließ meinem Schrei freien Lauf und steuerte sachte aus der Baustelle wieder auf die Landstraße. Sie hätten ja durchaus mal ein paar Warnleuchten aufstellen können, dachte ich und sah in den Rückspiegel. Oh, hatten sie ja …
»Langsamer«, zwang ich mich und schaltete das Radio ein, um mich von dem drängenden Gefühl abzulenken, das mich vorwärtspeitschte. Ein Prinz plärrte mir aus den Lautsprechern entgegen. Wohlgemerkt nicht Prince – der Artist, formerly known as der singende Meter wäre ja noch zu ertragen gewesen. Nein, die singenden Ostkermits waren es, die mir ins Ohr stanzten: »Es ist alles nur geklaut!«
Ich hätte den Wagen vor Ekel beinahe in den Graben gesetzt. Nun trat ich voll auf die Bremse, riss die Kassette aus dem veralteten Audiodeck und warf sie auf die Straße. Leider vergaß ich, vorher das Fenster zu öffnen, so dass sie abprallte und wieder in meinem Schoß landete. Ich wich einem geparkten Auto aus, warf sie auf den Beifahrersitz, widerstand dem Drang, auf sie einzuschlagen und fuhr weiter.
Nach einigen Minuten, in denen ich den Refrain des Liedes noch wie ein Echo im Ohr hörte, hatte ich mich weit genug beruhigt, um das Radio anzuschalten. Auch daraus wurde eine interessante Erfahrung. Offenbar befand ich mich auf der Grenze zwischen zwei Sendemasten, die um die aktuelle Frequenz stritten. Ich wollte nachjustieren, griff aber ins Leere, das entsprechende Rädchen fehlte nämlich. Stattdessen klaffte dort ein schwarzes Loch.
So pfiffen die Scorpions einige Sekunden vom Fluss Moskwa, um dann für einige weitere Sekunden von Aerosmith unterbrochen zu werden, die klagten, dass sie an einen Transvestiten geraten waren. Beides waren Lieder, mit denen ich leben konnte, und hektische Schnitte war ich spätestens seit MTV gewohnt.
Ich hielt den Blick auf die Straße gerichtet, die das Fernlicht aus der Nacht schälte. Die dunklen Wälder rechts und links hätten mich sicher nervöser gemacht, wenn ich sie voll wahrgenommen hätte. Der Tunnelblick lebe hoch.
Die Lieder verklangen und Moderatoren fingen an, über Bafög/Paris Hilton zu sprechen, eine fast schon ironische Kombination. Während dann Enya/Whitney Houston um die Wette klagten, verpasste ich meine Ausfahrt, hielt mit quietschenden Reifen, setzte zurück, nagelte das Ausfahrtschild um und war wenig später auf der ungeteerten Zufahrtsstraße unterwegs, die zu der geskypten Adresse führte.
Zu beiden Seiten lagen freistehende Häuser. Das einzige erleuchtete Fenster war die Auslage eines Bestattungsinstituts, das am Fenster damit warb: »All inclusive 599 Euro.« Der Gedanke an einen Pool voller Leichen, die Schirmchencocktails in den Händen hielten, ließ mich nervös kichern.
Die Moderatoren fingen wieder an zu sprechen, als ich der Beschilderung folgend auf einen noch schlechteren Weg abbog, und nach der genannten Hausnummer Ausschau hielt. Der Wechsel der Frequenzen ging nun deutlich schneller vonstatten:
»… ist es sicher nicht fraglich …«
»… das heute Nacht noch einiges geht …«
»… der einfache Mann auf der Straße …«
»… darf davon natürlich nichts wissen …«
Hey, das ergab ja beinahe Sinn.
»… Angela Merkel …«
»… hat das alles vertuscht …«
»… und auch der Rest der Regierung …«
»… schweigt verbissen …«
Ich näherte mich dem dunklen Waldrand am Ende der Straße und hatte noch immer keine Nummer 13 entdeckt.
»… Klaus …«
»… Holger …«
»… wird morgen…«
»… nicht mehr erleben …«
Mein Blick ruckte entsetzt zum Radio. Ich musste mich verhört haben.
Der Wagen sprang über eine Bodenwelle und ich sah aus den Augenwinkeln im herumtanzenden Licht der Scheinwerfer mit einem Mal eine Gestalt auf der Straße stehen.
Ich versuchte auszuweichen, aber der Wagen flog noch durch die Luft, schoss auf diese kleine, über eine Gehhilfe gebeugte Frau zu, die mich aus einem bleichen Gesicht anstarrte.
Schon wieder eine Oma! Irgendwie wimmelte es in der letzten Zeit in meinem Leben von Rentnerinnen, und keine dieser Begegnungen ging gut für mich aus. Vielleicht war das eine Strafe für die Streiche, die ich meiner Oma früher gespielt hatte.

Oma hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ganz wörtlich, denn zwei ihrer kostbaren Meissner-Porzellantassen sind seit einigen Tagen verschwunden. Genauer gesagt seit meinem letzten Besuch. Seitdem fehlen auch drei ihrer Motivteller, aber das hat sie noch nicht bemerkt. Ebenso wenig wie das stückweise Abwandern der dritten Reihe ihrer Zinnbecher. Ich bin nicht stolz darauf, dass ich nach und nach Omas Einrichtung mitgehen lasse, aber was soll ich machen? Ich bin jung, unmotiviert und damit das auch so bleibt, brauche ich meine tägliche Dosis Hasch. Christian, der Typ, der an unserer Schule das Dope vertickt, ist ganz scharf auf diesen Plunder. Ich will gar nicht wissen, was der damit macht. Aber langsam werden die Lücken so groß, dass sogar Oma sie bemerkt, obwohl sie sich hartnäckig weigert, ihre Brille aufzusetzen.
Das hat unter anderem dafür gesorgt, dass ihre abscheulichen Tierstickereien – meist wollballspielende fette Kätzchen – mittlerweile wie verunglückte Genexperimente aussehen.
Auf jeden Fall brauche ich eine neue Methode, um an regelmäßiges Bares heranzukommen, darum habe ich mich heute Nachmittag, als Papa sie zum Arzt gefahren hat, mit dem Zweitschlüssel eingeschlichen und liege jetzt unter der Couch auf der Lauer.
Oma überprüft zum vierten Mal, seit sie wiedergekommen ist, leise brummelnd den Schrank. Ich liebe meine Oma, auf eine gewisse Weise, aber sie macht es einem nicht leicht. Als ich sieben war, hat sie mir mit einer Ohrfeige einen Zahn ausgeschlagen, als ich sie gefragt habe, warum der Opa auf den Fotos auf dem Dachboden immer so komische schwarze Sachen anhat. Erst als ich erfahren habe, dass sein Tattoo keine lustige Jugendsünde gewesen war, konnte ich mir ihre Reaktion erklären. Bis dahin hatte ich geglaubt, das sei der Nachrichtenadler aus der Muppetshow da auf seiner Brust und »Meine Ehre heißt Treue« so was wie das Pfadfindermotto.
Ich warte ein bisschen ab, bis Oma sich in ihre Stickerei vertieft hat, diesmal sind kleine fette Hündchen auf ihrem Tuch vorgeprägt, aber sie geraten eher nach Eschers Haustieren. Dann schalte ich das Funkgerät ein und spreche mit hohler Stimme hinein: »Muckelchen!«
Das hinter dem Schrank versteckte Gegenstück gibt es schön gespenstisch wieder.
Meine Oma erstarrt und schaut sich um. »Hallo?«
»Muckelchen, ich bin’s. Dein Schnuppelhase.«
»Rudolf?«, fragt sie, halb entsetzt, halb erfreut.
»Jawoll«, antworte ich und kämpfe gegen das schlechte Gewissen an.
»Isset getz Tiet?«, fragt sie und der Stickrahmen fällt auf den Boden.
»Nein, nein«, beeile ich mich zu versichern. »Du hast noch Zeit. Aber du musst mir einen Gefallen tun.«
»Bisset wirklich?«
Darauf bin ich vorbereitet. Ich ziehe an der Schnur und das mit einem schwarzen Trauerbändchen versehene Bild meines Opas fängt an zu tanzen.
Oma keucht auf und setzt sich wieder in den Sessel.
»Willst du mir den Gefallen tun, Muckelchen?«
»Allet, Schnuppelhaas!« Oma ist den Tränen nahe und mich beißt erneut mein Gewissen, darum sage ich: »Mir geht es gut hier. Alle sind sehr nett.«
»Dat is schön, Männe.« Jetzt klingt sie schon besser.
»Essen ist auch gut. Und sauber ist es«, setze ich nach, aber dann fällt mir ein, dass mein Opa ja im Himmel, und nicht im Urlaub ist. Wobei der alte Drecksack wohl eher neben Osama auf der Saunabank in der Hölle sitzt.
»Du musst dem Jung Geld von mir geben«, fordere ich mit hohler Stimme. »Ich hab’s ihm nicht mehr geben können.«
»Mach eck, Schnuppelhaas«, sagt meine Oma. »Awa wie soll’icken finden?«
»Was?«, entfleucht es mir. »Der kommt doch dauernd vorbei.«
»Dat Konrad kommt’och nich vorbee. Den hat’de Polenhure doch mitgenommen.«
»Hä?« Ich raffe mittlerweile gar nix mehr.
»Ja, hasse denn din eigen Sohn vergeten?«
Dazu fällt mir nichts mehr ein. Mein Opa hatte ein Kind mit einer anderen? Mein Vater hat einen Halbbruder? Na, das ist doch mal Wissen, das ich ihm teuer verkaufen kann. Aber erstmal diese Schäfchen ins Trockene bringen.
»Ne, den Klaus mein ich.«
»Wat, dem verzogen Bratz willste Geld tun? Der taucht doch nüx. Sowat hätten wa damals verg… verstoßen.«
So läuft der Hase also. Von wegen »mein liebster Enkel«. Der einzige halt, darum die Pflichtvorstellung. Na warte, du alte Schrippe.
»Tu, was ich dir sage, sonst setzt es was!«, blöcke ich in bester Nachahmung der Tobsuchtsanfälle meines Opas. Omas Beine zucken vom Boden hoch, dann sagt sie: »Wie viel denn?«
»Hundert Mark im Monat«, gebe ich vor. Ich will Oma ja auch nicht arm machen.
»Mach ich, meen Männe«, sagt Oma eingeschüchtert.
»Ich muss jetzt gehen. Ich sehe das Licht.«
»Moppelbär, einet noch«, ruft meine Oma.
»Was denn?«
»Seit wann kallste denn so en gestochen Sprach?«
»Das lernt man hier«, weise ich sie zurecht und säusele dann: »Leb wohl!«
»Machet jut, Männe«, schluchzt Oma und ich rechne im Kopf aus, wie viel Gramm ich für 100 Mark kriege.

Die Räder krachten wieder auf den Boden, ich riss das Steuer herum, trat auf die Bremse und das Heck des Wagens schlitterte Zentimeter an der reglosen Gestalt vorbei.
Der Wagen knallte gegen einen Holzzaun und kam schlagartig zum Stehen. Ich wurde hart in den Gurt geworfen und stieß mir die Stirn am Lenkrad. Nach einigen Augenblicken verging die Benommenheit und ich sah auf. Genau in diesem Moment fiel der Holzzaun um. Dahinter erstreckte sich eine große Weide, auf der nun einige Kühe ins Licht blinzelten. Eine muhte verwundert und ließ einen feuchten Fladen fallen.
Wenigstens hatte ich die Alte mit der Gehstütze nicht umgesäbelt. Ich stieg aus, stützte mich am Wagen ab, weil sich die Erde ein bisschen drehte, und sah mich um.
Sie war weg. Keine Spur mehr von ihr. Ich schüttelte den Kopf und beugte mich in den Wagen. Der Aufprall hatte das Handschuhfach auffliegen lassen und ich fand eine kleine Taschenlampe darin. Die Batterien waren so schwach, dass ihr Licht eher symbolischer Natur war, aber auch damit fand ich die Alte nicht. War ich ohnmächtig geworden? Die konnte doch mit ihrer Gehilfe unmöglich in so kurzer Zeit außer Sicht geraten sein.
Ich schüttelte den Kopf und ließ die Lampe über die Häuserfronten wandern. Sie zeigte mir gerade die rote 13 an einem heruntergekommenen, sehr kleinen Bau, da flackerte sie und ging aus. »Gutes Omen«, murmelte ich, drückte den Knopf runter und warf die Tür des Wagens zu. Es gab ein sattes Geräusch von Metall auf Metall, nicht dieses Flüsterschließen moderner Autos mit ihren Fernbedienungen.
Der Schlüssel! Ich tastete meine Taschen ab, beugte mich vor und spähte ins Wageninnere. Die Taschenlampe ließ sich noch einmal zu drei Sekunden Funzellicht schütteln. Der Schlüssel steckte noch. »War klar«, kommentierte ich und brachte nicht einmal mehr die Energie auf, mich zu ärgern.
Ich richtete mich auf und sah ein Ungetüm aus der Hölle vor mir. Riesige Hörner ragten aus einem gewaltigen Schädel, der sich jetzt öffnete und … muhte! Eine der Kühe war neugierig geworden und stand in der Zaunlücke, stierte mich an und rülpste jetzt ein Bisschen Abendessen hoch.
»Guten Appetit«, wünschte ich atemlos und näherte mich vorsichtig, um den Zaun notdürftig wieder aufzustellen. Dazu musste ich die stoische Kuh ein Stück zurückschieben, was erstaunlich gut gelang. Anders als Hunde schien sie mich zu mögen. »Gutes Mädchen«, lobte ich, klopfte ihr den Hals und warf einen Blick auf ihren Ohrstecker. Jemand hatte neben die Zahl mit Edding den Namen Kunigunde geschrieben. »Braves Mädchen, Kunigunde«, lobte ich erneut, kraulte sie ein bisschen hinter den Ohren und wandte mich dann dem Haus zu.
»Bei Gott, sechs sechs sechs forever …« Ich stutze. Ausgesprochen klang sein Nick echt dämlich. Das würde mich aber nicht daran hindern, ihm ein drittes Nasenloch zu bohren, wenn sich der Weg nicht gelohnt hatte.
666 empfing mich an der Haustür. Er bewies, dass auf dem Dorf auch heute noch ein enger Verwandtschaftsgrad nicht zwingend ein Abturner war. Sein Gesicht hatte die Form einer Birne, oben schmal, unten rund und mit mehreren Kinnen versehen. Dabei war er nicht dick … nur verbaut. Seine Gesichtshaut war weiß geschminkt, die rot geäderten, grauen Augen mit schwarzem Liedschatten hervorgehoben und auch die dicken, wulstigen Lippen hatte er mit schwarzem Lippenstift betont. Um seinen Hals trug er ein Kilo Silberschmuck, der vorrangig Totenköpfe und Pentragramme zeigte.
Er streckte mir die Hand entgegen und sagte mit dünner Stimme: »Vehementer Auftritt, mein Lieber!«
Ich ergriff die Hand und hatte das Gefühl, in eine Besteckschublade zu greifen. Seine Hände steckten in dünnen Lederhandschuhen und drei der fünf Finger zudem in metallenen Fingerlingen mit Spitze.
»Bin nicht zum Scherzen aufgelegt!«, mahnte ich ihn.
»Selbstredend«, nahm er es ruhig entgegen. Seine Stimme erinnerte mich an Michael Jackson, seine Kluft eher an den Undertaker, ein Catcherass aus meiner Jugend.
Als wir den unbeleuchteten Flur verließen, offenbarte er ein schwarzes Schnürhemd über einer rachitischen, nackten Brust, die an ein ungebratenes Hühnchen erinnerte. Seine Hose war ebenfalls geschnürt, aber aus Leder, das leise knarrte, als er sich auf die ebenfalls schwarze Couch fallen ließ.
Der ganze Raum war, man ahnt es schon, schwarz, von den dicken Vorhängen über die Tapete und die Möbel bis hin zum Teppich. Nur der Wohnzimmertisch wollte nicht so ganz dazu passen, denn er war mit beigen Kacheln beklebt, von denen jede dritte eine Entenmutter nebst fünf Küken zeigte, die einen Bergbach überquerten. Allerdings federten ein großer, gehörnter Totenkopf und mit Drachen geschmückte Gläser voll Rotwein die Jägeridylle ab.
»Schön hier. Tine Wittler schon wieder weg?«, fragte ich nach einem Rundblick und er lachte hell und tonlos. Das Licht stammte von einem Dutzend Kerzen, die ausnahmslos auf Dekoschädeln standen. Nur bei dem Totenkopf, der auf dem Esstisch zwischen den Resten eines Abendbrots ruhte und hungrig auf die Wurst starrte, war ich mir nicht sicher, ob 666 ihn nicht doch unlängst ausgegraben hatte.
»Setzt dich, AlphaDick«, forderte er und wies auf den Sessel, der ihm gegenüberstand. »Sag Klaus«, forderte ich ihn auf und näherte mich dem Lederungetüm.
»Klaus?«, fragte er und schien enttäuscht. »Na gut.«
Ich setzte mich und das, was ich für eine Fellauflage gehalten hatte, verwandelte sich in ein Nadelkissen. Mit einem dissonanten Miauen und Fauchen grub sich der fette schwarze Kater, dem ich den Platz streitig machte, in mein Hinterteil, um dann eiligst zu fliehen.
»Mann!«, rief ich ihm hinterher und warf 666 einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Verzeihung. Luzifer ist manchmal ein bisschen anmaßend.«
Ich schnaubte, untersuchte das Sitzmöbel vorsichtig nach weiterem Getier und ließ mich dann schwer schnaufend hineingleiten.
»Wein?«, fragte 666 und hielt mir eines der Gläser hin. Ich vermute, dass er geheimnisvoll dabei lächeln wollte, aber es sah eher aus, als wolle ein Maulfisch den Putzerfisch nicht mehr rauslassen.
»Danke«, lehnte ich mit einer Geste ab. »Ich trinke niemals Wein.«
»Okay«, sagte er und stellte das Glas wieder ab.
»Ach, komm schon«, beschwerte ich mich beleidigt. »Stoker? Dracula? Ich trinke niemals … Wein?«
»Ich lese nicht«, gab 666 achselzuckend zurück. Die Grufties von heute waren auch nicht mehr das, was sie mal waren.
»Also, komm zur Sache … forever?«, riet ich eine angemessene Ansprache seines Online-Spitznamens.
»Triplesix«, erwiderte er und stieß ein Graf-Zahl-Lachen aus. Langsam ging er mir mit seiner billigen Show auf die Nerven.
»Okay, Triplesix. Das Lachen spar ich mir mal, ja? Komm zur Sache. Veronique.«
»Oh ja«, hauchte er und griff nach einer Mappe mit Ausdrucken. Vorne stand noch »Abisachen« drauf, aber im Inneren fand ich Dutzende Fotos und Bilder aus unterschiedlichen Epochen vor, in chronologischer Reihenfolge. Erst Ölgemälde, dann schwarz-weiß Fotos und schließlich Farbfotos und sogar Ausrisse aus Magazinen. Und auf jedem dieser Bilder war Veroniques Gesicht zu sehen. Sie war immer im Hintergrund, meist hinter Kirchenoberen, auf den Fotos dann oft auch hinter bedeutenden Politikern. Auf einem Foto mit Kohl lugte gar nur ihr Kopf hinter der Leibesfülle des Exkanzlers hervor.
»Äh …«, sagte ich eloquent.
»Veronique Diablapeur. Das ist Französisch und heißt soviel wie `der Teufel hat Angst´. Diese Frau lebt seit dem sechzehnten Jahrhundert. Sie ist eine Inquisitorin und Protektorin. Und sie ist nicht die einzige. Sie bewegen sich unerkannt unter uns, durch den Strom der Jahrhunderte«, verkündete 666 und senkte den Kopf, womit er wohl seinen Blick mysteriöser machen wollte, vor allem aber weitere Kinne erzeugte.
»Bis heute«, sagte ich automatisch und brachte ihn damit aus dem Konzept.
»Was?«
»Na, Highlander? Die Anfangsrede von Ramirez? Nein? Ach, egal!« Mein Hirn schaltete auf Autopilot, während ich mir wieder und wieder die Bilder ansah. Wenn das eine Verarsche war, dann war sie verdammt gut gemacht und von langer Hand vorbereitet worden. Was uns wieder zu Paola Elstner und Frank Felix brachte.
666 genoss seinen Wein und den Effekt, den seine Sammlung auf mich hatte. Er wartete mit einem breiten – und ich meine wirklich breiten – Grinsen ab, bis mein gelegentliches Stammeln sich wieder zu Worten verdichtete.
»Veronique soll … das kann doch nicht sein? Also, was hält sie am Leben?«
»Das weiß niemand. Aber diese selbstgerechten Monstren ziehen umher, um sich unschuldige Opfer zu suchen und sie umzubringen.« 666 stieß ein leises, unheilvolles Kichern aus.
»Aber … sind die Inquisitoren nicht von der Kirche? Also die Guten?« Kaum hatte ich es gesagt, fiel mir der Widerspruch selbst auf.
»Geschichte geschwänzt, hm?«, spottete nun auch 666. »Sie suchen sich Menschen, die sie nach ihrer Doppelmoral erst zeichnen und dann abschlachten.«
»Warum machen sie nicht einfach ein Foto?«, fragte ich verwundert.
»Was?«
»Warum sich die Mühe machen, sie zu zeichnen?«
666 verdrehte die Augen. »Der Hellste bist du nicht, was? Sie prägen ihnen ihr Mal auf, verpassen ihnen ein Zeichen, damit ihre Freunde sie als ihre Opfer erkennen.«
Mir wurde schlagartig eiskalt. »So etwas?«, fragte ich, zog den Verband von der Hand und hielt ihm mein Geschwür hin. Die Wirkung war überwältigend.
666 erstarrte, fauchte wie seine Katze und kroch rückwärts über die Couch und weiter an der Wand hinauf. Ich beobachtete völlig entsetzt, wie seine Hände und Füße fliegengleich an der schwarzen Tapete klebten und er daran hinaufkletterte, bis er fast unter der Decke hing.
Er stieß einen tiefen, schauderhaften Schrei aus, drehte den Kopf einmal um 180 Grad und riss dann seinen gewaltigen Mund auf.
»Was zur …«, setzte ich an, da schoss auch schon ein grüner Schwall Kotze aus seinem Hals. Ich konnte im letzten Moment vom Sessel aufspringen und mich vor der heißen Flut, die verblüffend an Erbsensuppe erinnerte, in Sicherheit bringen.
»Protektor!«, kreischte 666 und seine Augen glühten neongelb auf. »Du wagst es, dich bei mir einzuschleichen!«
Ich war so damit beschäftigt, meine rasenden Gedanken im Zaum zu halten, dass mein Mund Freilauf hatte. »Du hast mich doch eingeladen.«
»Mein Herr wird dich und deinesgleichen zermalmen!«, zischte 666 und stieß sich wie eine Springspinne von der Wand ab. Ich griff mir instinktiv den Schädel vom Tisch, schleuderte ihm das wuchtige Dinge entgegen und warf mich erneut zur Seite, auf den muffigen schwarzen Teppich.
Es gab ein dumpfes Geräusch, als der Ziertotenkopf 666 im Gesicht traf. Er wurde aus der Bahn geworfen, landete mitten auf dem vollgekotzten Sessel und glitt daran herunter. Aber dann sprang er behände auf die Füße und wandte sich leise lachend mir zu.
Ich beeilte mich, auf die Beine zu kommen, den säuerlichen Gestank in der Luft und meine Panik zu ignorieren und einen Ausweg zu suchen. Doch jedes bisschen Vorsatz entglitt mir, als 666 sich mir zuwandte. Sein Unterkiefer stand unnatürlich ab, war offensichtlich gebrochen. Grünliche Suppe tropfte aus dem schief stehenden Mundwinkel. Er umfasste seinen Kiefer und schob ihn ohne mit der kajalgeschwärzten Wimper zu zucken wieder in die richtige Position. Das Knirschen ging mir durch Mark und Bein und reduzierte mich auf einen geistlosen Autobahnnutzer, der einen Unfall sah. Ich konnte ihn nur noch anstarren.
Da sprang er vor, segelte durch die Luft und riss mich zu Boden. Ich schrie auf und hob die Hände, um seine Schläge abzuwehren, was mir mehr schlecht als recht gelang. Er setzte sich auf meine Hüfte, drückte mit unmenschlicher Kraft meine Arme hinunter und kniete sich darauf.
»Enttäuschend«, knirschte er mit rauer Stimme. »Ich dachte, ihr Protektoren wäret schwerer zu töten!«
Er hob die Hände und fasste einen seiner metallverzierten Finger. Unter meinem entsetzen Keuchen zog er ihn von der Hand ab. Es kam eine kurze, silberne Klinge zum Vorschein, mit dem Fingerling als Griff.
»Grüß den Chef, du Wicht!« Er setzte das Fingermesser an meine Kehle und lachte erneut wie ein irrer Muppet. wobei sein Unterkiefer übertrieben auf- und zuklappte.
Ich spürte das Messer in meine Haut schneiden und machte mich bereit, zu sterben. Doch dann wurde er plötzlich zur Seite weggerissen. Die Wucht des Angriffes hob ihn von mir herunter und ließ ihn in ein Möbel krachen, das ich für einen geschlossenen Dartschrank gehalten hatte, dass sich anhand der herauskegelnden Hühnerstücke, schwarzen Kerzen und blutgefüllten Schalen jedoch als satanischer Altar herausstellte.
Hinter ihm stand die Alte, die ich vorhin fast plattgefahren hätte. Sie hatte 666 mit ihrer Gehhilfe von mir heruntergeschlagen, die dabei eine ziemliche Delle abbekommen hatte.
»Steh auf, du Narr!«, forderte sie jetzt mit zitternder Stimme, wies mit dem Zeigefinger auf mich und ließ ohne hinzusehen die Gehhilfe herumwirbeln und gegen 666s Kopf knallen, der sich gerade wieder erheben wollte. Er sackte zu Boden. »Hilf mir!«, forderte die Alte.
Ihre Stimme hatte eine solche Befehlsgewalt, dass ich mich auf die Beine kämpfte und das Erstbeste ergriff, was ich in die Finger bekam. Es war eine Unterarmlange nackte Abbildung von Lady Death, deren gewaltige Brüste der improvisierten Waffe einen guten Grip verschafften. Ich holte aus und … erstarrte. Ich konnte doch keinen anderen Menschen schlagen.
Die Alte grollte wütend auf und huschte mit erschreckendem Geschick an mir vorbei, um erneut mit der Gehhilfe zuzudreschen. Blut spritzte in ihr faltiges Gesicht.
»Komm schon!«, rief sie mir mit einem Schulterblick zu, aber ich war wie erstarrt. 666s Hand schoss hoch und riss der Alten die Beine unter dem Leib weg. Sie fiel mit einem schrillen Kreischen und dann hockte 666 über ihr, drückte ihr mit einer Hand die Kehle zu.
Sein Gesicht war eingedrückt und mit Platzwunden übersät, aus denen jedoch immer weniger Blut und dafür mehr schwarze, ölige Flüssigkeit lief. Seine Gelenke knackten und bogen sich um, seine Gliedmaßen streckten sich, bis er an eine vierbeinige Spinne erinnerte.
»Holger!«, japste die Oma und das riss mich aus meiner Erstarrung. »Klaus«, korrigierte ich automatisch und sah zu ihr. Sie sah mich aus tiefen, traurigen Augen an. Ich blickte weiter zu 666, der alles, aber kein Mensch war, und traf eine Entscheidung. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte.
Ich ließ die Statue fallen und floh. Zumindest wollte ich das, aber als ich lossprintete, streckte 666 eines seiner unmenschlich langen Beine aus und brachte mich zu Fall. Er schob sich mit staksenden, schnellen Bewegungen über mich und nun sah ich, dass sein Mund noch gewachsen war und sich seine Zähne in drei Reihen scharfe Sägen verwandelt hatten.
Ich schrie, schlug um mich, aber er war zu stark. Mit der einen Hand würgte er die Alte weiter, mit der anderen presste er meine Stirn auf den Boden, um meinen Hals für einen Biss zu entblößen.
»Herr im Himmel!«, flehte ich verzweifelt und versuchte ihm ganz männlich die Augen auszukratzen. Dabei rutschte ich ab und traf mit der rechten Handfläche seine Stirn. Ein gleißendes Licht flammte unter meinen Fingern auf, begleitet von dem Gefühl, in heißes Frittenfett zu fassen. Der Geruch von Ozon erfüllte schlagartig den Raum und 666 wurde im hohen Bogen nach hinten geschleudert, flog gegen den schwarzen Vorhang und brach durch das dahinterliegende Fenster.
Ich würgte trocken und starrte verwundert in meine Hand. Das Geschwür hatte mittlerweile die Form von klar erkennbaren Strichen angenommen, und es war unzweifelhaft ein Pentagramm in einem Kreis. Und eben dieser Kreis glomm noch einen Augenblick nach.
»Na bitte«, rief die Alte und kam mit einem Jacky-Chan-Manöver auf die Beine. »Hinterher! Er darf uns nicht entkommen!«
Ich starrte sie an, aber dann machte sich etwas in mir breit, das ich lange nicht mehr gespürt hatte. Stolz! Ich hatte diesem Arschloch ordentlich in den Hintern getreten, auch wenn ich nicht wusste, wie ich das gemacht hatte oder ob er überhaupt einen Hintern besaß. Aber eines war klar … für diese ganze Scheiße musste jemand zahlen, und das würde 666 sein!
Die Oma flankte aus dem Fenster, wobei ihr Blümchenkleid hochflatterte und warme Winterunterwäsche entblößte. Ich lief ebenfalls zum Fenster und sah hinab. Es waren mindestens zwei Meter bis zum Boden, von den scharfkantigen Scherben ganz zu schweigen.
Ich wirbelte herum und stürmte zur Eingangstür, wobei ich in der grünen Exorzistenpfütze fast ausrutschte. Wer hätte je gedacht, dass dieser Film auf wahren Begebenheiten basierte?
Als ich wagemutig die drei Stufen am Eingang übersprang, war 666 bereits an meinem Auto angekommen und schlug die Fahrerscheibe ein. Die Oma lief auf ihn zu, wurde dabei aber immer langsamer und blieb schließlich auf halber Strecke vornübergebeugt keuchend stehen.
666 riss die Fahrertür auf, drehte sich um und grinste bösartig. Dann verschwand seine Hand am Ende des unsäglich langen, dürren Arms in seinem Hemd und er zog allen Ernstes eine Pistole hervor!
Ich kam schlitternd zum Stehen und versuchte zu entscheiden, ob ich mich besser hinwarf oder in die andere Richtung floh.
»Stirb, Gottesknecht!«, rief er mir wütend entgegen und spannte den Hahn des Revolvers. In diesem Moment durchbrach Kunigunde im vollen Lauf den kaputten Zaun, rammte 666 die Fahrertür in den Rücken, so dass er vortaumelte und dann ein Horn in den Leib. Es gab ein fleischiges Knirschen und die Kuh riss 666 mit sich, dessen lange Gliedmaßen wie Seile hinterherschleiften und unter ihren Hufen zertrampelt wurden. Dabei muhte das Milchvieh triumphierend.
666 schrie atemlos, weil seine Lunge durchbohrt war, und dann blieb Kunigunde stehen und schüttelte ihn ab. Er sackte zu Boden, versuchte aber einen seiner langen Arme zu der am Boden liegenden Pistole zu bewegen. Dieser Mistkerl hörte einfach nicht auf, mich umbringen zu wollen.
Ich schrie wütend auf, nahm mir im Laufen einen schweren Stein, und als ich das Monstrum erreicht hatte, drosch ich wieder und wieder auf ihn ein. Allerdings schaute ich nicht hin, was da knirschend unter dem Stein zermalmt wurde.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter, und ich schrie vor Schreck auf, ließ den Stein fallen.
»Bring es zuende«, sagte die Alte und wies auf den immer noch zuckenden Spinnenleib. Kurz musste ich an Mortal Combat denken, wo man nach einem harten Kampf stets aufgefordert wurde: »Finish him!«
Aber die Alte war beim besten Willen keine Sonja Blade. Also zuckte ich nur mit den Schultern.
Die Oma seufzte, zog das Kleid hoch und die Unterhose runter, um ein faltiges Hinterteil zu offenbaren. Wenn sie mich damit bestrafen wollte, hatte sie ihr Ziel erreicht. Ich klammerte mich Hilfe suchend an Kunigunde, die friedlich wiederkäuend neben mir stand.
»Alles muss man selber machen«, maulte sie und ließ sich dann mit dem nackten Arsch auf das Höllenwesen fallen. Es gab ein zischendes Geräusch, ein helles, gleißendes Licht, dass Kunigundes blutig-schwarzes Horn beleuchtete. Dann hörte ich einen vielstimmigen, wispernden Chor und schwarze, eisige Schatten huschten über uns, rissen etwas Dunkles, sich Windendes aus 666 hervor und zerrten es mit sich in den dunklen Wald.
»Ghost ist also auch eine Reportage gewesen?«, fragte ich tonlos und wandte mich der Alten zu, die mir auf der Leiche sitzend eine Hand hinhielt, damit ich ihr aufhalf.
Ich ergriff sie, sah ihr dabei zum ersten Mal wirklich in die Augen und schnappte nach Luft, als ich sie erkannte.
»Veronique?«

Zu Kapitel 9  –  Zum Crowdfunding

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