Protektor – Leseprobe – Kapitel 9

Neuntes Kapitel: Protektor est (Kinder sind grausam)

Ich reagierte mit der mir gewohnten Souveränität auf die gesamte Lage: „Wie … Wa… Öh … Also …“
Die Alte mit dem nackten Po hielt mir eine dürre, runzelige Hand hin. „Hör auf zu stammeln wie ein Nazi in einer Abiprüfung und hilf mir auf die Beine, Jüngchen.“
Ich gehorchte. Veronique, oder eher, die alte Frau, die aus meiner wunderschönen, knackigen Veronique geworden war, klopfte sich Dreck vom Kleid und schüttelte den Kopf. „Da hast du aber mächtig Glück gehabt, dass ich rechtzeitig gekommen bin.“
Ein hysterisches Kichern löste sich aus meiner Kehle.
„Was ist so lustig?“, wollte Veronique wissen und wechselte zu ihrer Gehhilfe.
„Du hast gekommen gesagt“, kicherte ich verzweifelt.
„Ernstlich?“ Sie hob die grauen Augenbrauen. „Wie alt bist du?“
„Nein!“, rief ich vehement und erschreckte damit die Kuh. Die machte einen Schritt zurück und der verdrehte Dämonenleib knirschte, um dann als Staub von ihrem Horn zu rieseln.
„Die Frage ist doch“, fuhr ich Veronique an. „Wie alt bist du?“
„Sowas fragt man eine Dame nicht“, sagte Veronique und lächelte zahnlos. „Aber ich habe meinen Teil der Weltgeschichte gesehen und beeinflusst. Und das wirst du auch tun, wenn du aufhörst, dich so dämlich zu verhalten.“
Sie tätschelte die Kuh.
„Wie meinst du das?“
Unvermittelt zog sie ihr Kleid wieder hoch und offenbarte erneut ihren runzligen Hintern. Über mein entsetztes Keuchen schmunzelte sie hinweg. „Das hier“, sie wies auf das Symbol, „ist das Zeichen des Protektors. Ich erhielt es vor Jahrhunderten, und jetzt habe ich es an dich weitergegeben.“
Ich warf verzweifelt die Arme in die Luft. „Protektor? Sind wir Rasierapparate, oder was?“
„Verflucht sei Wilkinson dafür!“, rief Veronique erbost aus. „Nein, das kommt von protegere, lateinisch für schützen. Wir schützen die Welt vor dem Bösen. Wesen wie dem da.“ Sie wies auf den Aschehaufen.
„Aha“, sagte ich. Ich hätte das Ganze gerne bezweifelt, aber mein Hirn war einfach zu sehr auf Logik gepolt. Ursache und Wirkung, These und Beweis. Entweder wurde ich verrückt, oder es gab eine übernatürliche Welt jenseits der sichtbaren. Und da ich im ersten Fall sabbernd in einer Zwangsjacke in der Ecke einer Gummizelle liegen würde und im zweiteren ein arschcooler Vampirjäger war, dem die Frauen hinterherstiegen, beschloss ich ihr zu glauben.
„Aber warum ich?“
Veronique lachte. „Glaub mir, das habe ich mich auch gefragt. Mehrfach. Eigentlich seit dem Moment, wo du mir in der ersten Vision erschienen bist.“
„So deutlich hättest du das jetzt auch nicht sagen müssen.“
„Beim ersten Mal habe ich es auf ein zu fettes Abendessen geschoben. Mir war klar, dass ich das Zeichen irgendwann weitergeben würde, aber du? Ich meine … du?“
„Danke, ich habe es ver…“
„Ich habe im Laufe der Zeit Dutzende mutige, stattliche Männer getroffen. Männer, die von sich aus den Kampf gegen das Böse aufgenommen haben, obwohl sie bloße Menschen waren.“
„Okay, danke, das …“
„Männer wie gemeißelte Statuen, mit Bauchmuskeln, auf denen man Möhren reiben könnte …“
„Hey!“, unterbrach ich ihr Schwelgen. „Wir haben dann jetzt ausreichend etabliert, dass ich nicht wirklich der Idealkandidat bin. Also warum?“
Veronique zuckte mit den Schultern. „Die Mächte des Schicksals müssen in dir mehr sehen, als jeder andere. Und damit meine ich wirklich ausnahmslos jeder andere.“
Ich gab es auf. Es war ein schöner Gedanke, dass da irgendwo jemand große Stücke auf mich hielt. Das war ein sehr ungewohntes Gefühl, das es nicht oft in meinem Leben gab.

Ich bin vor wenigen Monaten in die erste Klasse gekommen und da wir nicht eben in einem Eliteviertel wohnen, sind meine Klassenkameraden eine zünftige Mischung aus vorrangig türkischen Migrationskindern und urdeutschem Asi-Adel in der vierten Generation der Arbeitslosigkeit. Die Türken wollen nichts mit mir zu tun haben, weil ich Deutscher bin, die wenigen Mittelschichtkinder weil ich mich vom Kleidungsstil nahtlos bei den Bildungsgeforderten einreihe – Danke Mama – und die Asis spüren instinktiv wie ein Wolfrudel meine Schwäche. Diese elaborierte Analyse würde ich natürlich erst in einigen Jahren weinend auf dem Sofa anstellen, nachdem mich eine Kurzzeitfreundin fragen würde, ob ich auch so schöne Erinnerungen an die Grundschule hätte.
Heute, im knöchelhohen Schnee eines frühen Wintereinbruchs, reift in meinem unfertigen Kinderhirn lediglich die Erkenntnis, dass es vermutlich kein gutes Zeichen für kommende Freundschaften ist, wenn die gesamte Klasse sich um einen versammelt und Punkte dafür vergibt, wohin sie dich mit eis- und steindurchsetzten Schneebällen trifft. Johanna beweist ihre natürliche Begabung für Ballsportarten, indem sie es schafft, einen angeschnittenen Wurf unter meine zum Schutz tief ins Gesicht gezogen Kapuze zu setzen. Das tennisballharte Geschoss trifft mich auf Nase und Wange und reißt mich von den Beinen.
„Volle Möhre in die Fresse!“, höre ich den fetten Ungerer rufen und etwas in mir zerbricht. Ich kämpfe mich auf die Beine und renne auf Johanna zu. Was folgt, könnte eins zu eins in Saving Privat Ryan hineingeschnitten werden. Schneebälle treffen mich an der Brust, an den Beinen, ich sacke kurz auf ein Knie, rappele mich schreiend vor Wut auf und renne weiter. Johanna befeuert mich aus einem großen Vorratsberg an Schneebällen, den sie neben sich aufgetürmt hat.
Ich erreiche sie, weiß dann aber nicht, was ich tun soll, denn ich habe mich noch nie in meinem Leben geprügelt, also schreie ich sie an: „Ey, du dumme Arsch-Gans-Stinkscheißblöde! Das hat weh getan! Wenn du das nochma…“
Johanna stopft mir den Schneeball in den Mund, den sie noch in der Hand hält. Ich schmecke Streusalz und Kies darin und damit bricht der letzte Damm. Ich stoße Johanna um und fange an, aus nächster Nähe die Schneebälle auf sie abzuwerfen. Es sind etwas zwanzig. Ich treffe mit zwei davon. Hey, ich habe nie behauptet, sportlich zu sein.
Ich komme erst wieder zu mir, als mich eine große Hand grob im Nacken fasst und wegzieht. Es ist Mauskowitz, der Hausmeister. Der riesige Mann schleift mich in Richtung Schulgebäude und droht dabei: „Das wird haben Hinterspiel, Holger!“
„Klaus“, berichtige ich ihn.
„Man schlägt sich keine Frauen.“
Mir fehlt die Kraft, um zu fragen, was man dann machen soll, wenn man von Frauen misshandelt wird. Ich ergebe mich in mein Schicksal. Vielleicht wird mein Vater ja stolz sein, wenn zur Abwechslung mal ich jemanden verprügelt habe.

„Wir sollten von hier verschwinden. Jemand könnte die Schüsse gehört haben.“ Veronique wandte sich zu dem im Zaun steckenden Wagen um. „Fährt der noch?“
„Finden wir es heraus.“
Er tat es. Aber irgendwas hatte sich verzogen und so klang vom Vorderreifen ein durchgehendes, anhaltendes Kreischen in die Fahrgastzelle und wir konnten nur Dreißig fahren. An ein Gespräch war nicht zu denken, bis wir meine Wohnung erreicht hatten.
Veronique sah sich angewidert in meinem Apartment um. Ich fegte Pizzaschachteln und leere Chipstüten von der durchgesessenen Couch und wies ihr galant den Platz.
„Setz dich. Nimm dir einen Keks.“
Offensichtlich kannte sie Monthy Phyton nicht, denn sie fragte: „Wo sind denn die…“
„Was zur Hölle ist hier jetzt eigentlich los?“, blaffte ich sie an. „Ich soll Dämonen jagen? Bin ich jetzt sowas wie die Winchester-Brüder?“
„Du bist eher sowas wie Buffy in der ersten Staffel“, korrigierte Veronique. „Aber bei allen falschen und überzogenen Darstellungen des Bösen: Im Prinzip ja.“
„Aber wie … 666 da hätte mich beinahe kaltgemacht. Ich meine, ich kann nicht mal Judo …“ Ich drehte meinen Sessel zu ihr und ließ mich hineinfallen.
„Das Siegel wird dir helfen!“
Ich musterte das pentragrammartige Narbensymbol in meiner Handfläche. Die Narben wurden immer feiner und dunkler, einige sagen schon wie Tätowierungen aus.
„Mit ihm wirst du Dinge sehen können, die anderen verborgen bleiben. Es verleiht die übermenschliche Kräfte und bannt das Böse.“
„Cool!“, sagte ich und fuhr ehrfürchtig mit dem Finger die Wulste nach.
„Anfangs wird es allerdings ein wenig Übung brauchen, bis du seine Kräfte nutzen kannst. Meist offenbaren sie sich in Momenten großer emotionaler Aufregung. Bei Angst, Freude, Erregung …“
Ich erinnerte mich an die beiden bleichen Kinder im Schlafzimmer meiner Eroberung und an die seltsamen Gestalten, die durch den Krankenhausflur geschlurft waren. „Ich sehe tote Menschen!“, hauchte ich bedeutungsschwer.
„Ja, das ist eine der Kräfte.“
„Und jetzt?“
„Jetzt werden wir aus dir einen anständigen Protektor machen. Du wirst Kampftraining bekommen und natürlich musst du die verschiedenen Arten erlernen, wie man die Schergen des Bösen vernichtet.“
Ich nickte. „Gibt es dafür Videotutorials?“
Veronique zeigte einen formvollendet ausgeführten doppelten Facepalm und seufzte. Im gleichen Augenblick pochte es lautstark an die Tür. Ich sprang auf. Veronique ruderte einige Male unbeholfen mit den Armen, bis ich auch ihr von der Couch hochhalf.
„Wer ist das?“, fragte ich besorgt.
„Kribbelt dein Siegel?“, fragte sie. „Meines verliert seine Kräfte, seit ich es an dich übergeben habe.“
Ich konzentrierte mich auf meine Handfläche. „Ich glaube nicht.“
„Das ist es vermutlich kein Monstrum. Aber es könnten natürlich Kultisten mit Messern und Sensen sein.“
Das Klopfen wiederholte sich so stark, dass die Tür in den Angeln wackelte. Es klang unbeholfen und unrhythmisch, als würden da keine menschlichen Hände klopfen.
„Geh aufmachen“, verlangte ich.
„Du willst eine alte Frau vorschicken?“
„Eine alte Frau, die Monster mit ihrer Gehhilfe zusammenwichst. Also tu nicht so.“
„Ich bin im Ruhestand“, behauptete sie.
„Seit wann?“
„Seit jetzt!“
Es pochte erneut. Ich atmete tief durch, nahm ein schmutziges Buttermesser vom Tisch und ging zur Tür. Mit dieser Waffe würde ich vermutlich niemanden beeindrucken, aber der Schimmel darauf würde einem Angreifer zumindest eine fiese Blutvergiftung bescheren.
Ich verfluchte den geizigen Vermieter, der keine Spione in die Türen hatte einbauen lassen und riss die Tür auf. Im Hausflur stand eine Kuh und starrte mich treudoof aus braunen Augen an. Ich hatte eine sehr schlechte Vorahnung.
„Wer ist es?“
Ich prüfte das Schild im Ohr. Jawohl … das hier war Kunigunde.
„Die Kuh.“
„Oh nein!“
Während sich Veronique mit der Gehhilfe zur Tür arbeitete, machte Kunigunde einen Schritt auf mich zu und zog mir ihre riesige Zunge durchs Gesicht. Ich keuchte angewidert auf, was die Kuh traurig zu machen schien. Entschuldigend tätschelte ich ihr die Schnauze, wischte mir mit dem Ärmel den Kuhrotz aus dem Gesicht und sagte: „Nichts Persönliches, aber beim zweiten Date noch nicht mit Zunge!“
Kunigunde muhte so laut, dass es im ganzen Treppenhaus nachhallte.
Nun war auch Veronique da. „Das hatte ich befürchtet“, sagte sie und wies auf die Stirn der Kuh. Dort zeichnete sich in der Fellstruktur kaum erkennbar eine Kopie meines Protektor-Siegels ab. „Die Kuh ist dein Tiergefährte.“
„Mein bitte was?“
Bevor Veronique antworten konnte, setzte sich Kunigunde in Bewegung. Sie kam in die Wohnung, ignorierte dabei meine Versuche, sie an den Hörnern zurückzuhalten, und schob mich bis ins Wohnzimmer. Dort stellte sie sich ans Fenster und schaute mich auffordernd an.
„Was will sie?“
Veronique zuckte die Achseln. „Vermutlich will sie, dass du ihr einen Schlafplatz frei machst. Sie ist immerhin die ganze Strecke von 666 hierhergelaufen.“
Ich schnaubte ungläubig, aber dann holte ich einen Besen, fegte einen kuhgroßen Flecken von Müll frei und tatsächlich ließ sich Kunigunde mit einem wohligen Brummen auf meinem fleckigen Teppich nieder. Ihre Ohren zuckten einige Male, dann schloss sie die Augen, brummte erneut und legte den Kopf auf dem Boden ab.
„Ich dachte Kühe schlafen im Stehen“, sagte ich. „Damit man sie umschmeißen kann.“
„Echt? Das ist gerade dein dringlichstes Problem?“
Ich schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen und diese absurde Situation anzunehmen. „Was ist ein Tiergefährte?“
„Wenn ein neuer Protektor geweiht wird, verbindet sich seine Seele mit einem Tier. Dieses Tier begleitet und unterstützt ihn bei seiner Aufgabe und entwickelt ebenfalls besondere Fähigkeiten. Manchmal geht dieser Bund so weit, dass der Protektor durch die Augen des Tieres sehen kann und sich dessen Fähigkeiten leihen kann.“
„Toll, dann gebe ich demnächst Milch?“
Veronique lachte auf, errötete dann aber und legte den Kopf schief. „Ich muss gestehen, ich habe noch nie davon gehört, dass jemand eine Kuh als Tiergefährten hatte. Meist sind es eher Falken, Hunde, Katzen, manchmal Ratten. Aber eine Kuh …“
Ich fand mich bemerkenswert ruhig für die Offenbarung, dass meine Seele mit einem wandelnden Steak verbunden war. „Was ist dein Tiergefährte?“
„Er ist schon lange tot. Tiergefährten werden zwar ungewöhnlich alt und sind sehr widerstandsfähig, aber auch sie sterben einmal. Also würdige diesen Bund, er ist einmalig. Wenn du …“ Sie wies fragend auf die Kuh.
„Kunigunde“ sagte ich.
„Wenn du Kunigunde verlierst, wird es sein, als wäre ein Teil deiner selbst gestorben.“
„Was war dein Tier?“, ließ ich nicht locker.
„Ein Berglöwe“, gab Veronique zu.
„Hunde, Falken, Berglöwen … und ich kriege eine Kuh.“ Das passte ja mal wieder zu meinem Leben.
„Wie soll das gehen? Ich kann doch keine Kuh in der Stadt halten. Was soll die fressen? Und wo kriege ich eine so große Katzenbox her?“
„Danke, etwas Tee wäre nett“, sagte Veronique.
„Was?“
„Was?“, fragte sie zurück.
„Ich soll jetzt Tee machen?“
Veronique schaute mich verwirrt an. „Wer hat denn was von Tee gesagt?“
„Na du!“ Ich fühlte mich wie in einem Stooges-Film. Oder vielleicht Louis De Funes: Nein – Doch – Oooh!
„Ach du meine Güte.“ Veronique zog erneut ihr Kleid in die Höhe.
„Du musst damit aufhören!“, rief ich und hielt mir die Augen zu. „Ich kriege sonst nie wieder einen hoch.“ Davon abgesehen, dass die meisten Frauen sicher begeistert wären, es mit einem Mann zu treiben, der eine Kuh in einem Dreißig-Quadratmeter-Apartment im zweiten Stock hielt.
„Es verblasst“, sagte sie leise.
„Was?“ Ich linste durch die Finger. Veronique war wieder bekleidet und sank nun ermattet auf die Couch.
„Mein Siegel. Es wird nicht mehr lange dauern, dann holt mich mein wahres Alter ein. Ich werde …“
Ich wartete einen Augenblick, ob sie den Satz vollenden würde. Erst als Kunigunde sich erhob und Veronique mit einem traurigen Rülpser den Kopf in den Schoß legte, begriff ich.
„Ich … das tut mit leid … wie lang noch?“
„Kennen wir uns, junger Mann?“, fragte Veronique verwirrt und streichelte den Kuhkopf. „Das ist eine interessante Katze, die sie da haben. Ein bisschen groß, nicht wahr?“

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