Protektor – Leseprobe – Kapitel 3

Drittes Kapitel: Verführung mit Hindernissen (Aufwärtshakenkreuz)

Mir war die Lust auf Disko ordentlich vergangen, aber Hannes ließ keine Ausreden gelten. Er zerrte mich mit einem grollenden: »Los, muss jetzt was Dämliches flachlegen« an der Schlange vor der Kasse vorbei. Als das Pärchen an der Spitze (er: Typ aufgedonnerter Bengel in der Bankausbildung, sie: Backwarenfachverkäuferin mit großer Ähnlichkeit zum Teig, mit dem sie täglich umging) sich beschweren wollten, drückte Hannes ihnen wortlos einen Hunderter in die Hand, schob einen weiteren durch die Klappe im Kassenhäuschen und sagte: »Ein Erwachsener, ein Kind.«
»Sehr witzig«, sagte ich und tänzelte um Hannes herum, damit der breitgebaute Mann von der Sicherheit zuerst ihm eine einschenken würde. Doch der Mann nickte Hannes nur wohlwollend zu und dann waren wir auch schon auf dem Weg ins Innere des riesigen Unterhaltungstempels. Er warb mit fünf verschiedenen Diskos: Techno, Metal, Hip-Hop, Schlager und Oldies. Im Vorbeigehen am großen Lageplan sorgte der Zusatz »Oldies (aus den 90ern)« dafür, dass ich mich sehr, sehr alt fühlte.
Im Inneren ging von einem zentralen Innenhof der Weg in die unterschiedlichen Bereiche ab und es war eine besondere Art von Kakophonie, wenn Wolfgang Petri und SlipKnot in einer unheiligen Allianz auf der einen Seite von der Hölle sangen, während wortlose treibende Technoböller auf der anderen Seite den Geräuschteppich für ein Duett von Michael Jackson und Sido bildeten.
Hannes steuerte zielstrebig die Schlagerdisko an. Als ich mich mit einem entsetzen Quieken gegen die Richtung wehrte, verdrehte er die Augen und brüllte mir ins Ohr: »Die Friseusen da sind leichte Beute!«
»Hölle, Hölle, Hölle«, kündigte Wolle mir an, was mich in seinen heiligen Hallen erwarten würde.
»Lass mal! Ich geh in die Oldies«, erklärte ich darum.
Hannes verdrehte erneut die Augen und folgte mir dann widerstrebend. Ein Bier und drei Lieder später war klar, dass wir die einzigen Oldies in der Oldies-Disko waren. Das älteste Lied war knapp vor der Jahrtausendwende ein Hit gewesen und bei unserem Eintritt hatten wir das Durchschnittsalter locker um fünf Jahre angehoben.
Das störte Hannes wiewohl nicht. Während ich mich mit einem zweiten Bier darauf beschränkte, in die Schwaden der übertrieben häufig eingesetzten Nebelmaschine zu starren und mich zu fragen, ob diese Kinder nicht schon längst ins Bett gehörten, hatte Hannes diese Frage für sich bereits beantwortet: Sie gehörten, und zwar in sein Bett. Darum war er schon jetzt von zahlreichen weiblichen Geschöpfen umgeben, von denen ich beschloss, sie trotz gegenteiliger Indizien für junge Frauen und nicht für pubertierende Mädchen zu halten. Wie der Rattenfänger von Hameln lockte er sie mit Alkopops an, die er großzügig in alle Richtungen verteilte. Es wäre ein spannendes mathematisches Problem, zu errechnen, ab wie viel Euro in Naturalien Hannes’ Schnurbart attraktiv wurde.
Meine Gedanken wurden von zwei Teenagern angezogen, die mit Sicherheit eigentlich noch nicht trinken durften. Die Mädchen, das eine im engen schwarzen Strickkleid, das andere in hautengen Lederhosen und knappem Top mit Glitzertotenkopf, knutschten auf der Tanzfläche und rieben sich aneinander. Ich glaubte über Madonnas Frozen (bei dem ich immer Frohsinn verstand) sogar das Quietschen der aneinanderschabenden baugleichen Julia-Roberts-Gedenkstiefel der beiden zu hören.
Ich lehnte mich an die Bar und fand mich damit ab, dass ich hier den Rest des Abends verbringen würde. Es gab Momente, da fühlte ich mich total sexy und gutaussehend. In diesem Momenten war ich auch sicher, eloquente und geistreiche Konversation führen zu können, charmant, witzig und ein begnadeter Tänzer zu sein. Aber diesen Alkoholpegel hatte ich an diesem Abend noch lange nicht erreicht.
Auf dieses Stadium folgte dann meist nur einen oder zwei Wodka später der Glaube, mein Genital sei plötzlich auf dreifache Größe angewachsen und mein Gesicht habe sich zu einer Mischung aus Goerge Cloney und Brad Pitt umgeformt. Leider stand ich mir dieser Meinung meist allein da.
Der DJ war sich für nichts zu schade und warf nun Boyzone in den Player. Ich wandte mich angeekelt ab und wollte mir einen Cocktail bestellen, stieß dabei jedoch eine junge Frau an. Genauer gesagt versank mein Ellenbogen einige Zentimeter weit in ihrer Oberweite, auf der ich dank Wonderbra mein Getränk bequem hätte abstellen können.
Sie kreischte empört auf und rief damit ihren Freund auf den Plan, einen kleinen, dafür aber breiten Glatzkopf, dessen Gesichtsausdruck an einen Pitbull kurz nach seiner Kastration erinnerte – voller Welthass.
»Ey«, sprach der abgebrochene Schwarzenegger mich an. »Packst du meine Frau an?«
»Nein«, sagte ich eilig. »Nein, nein! Das war ein Versehen. Mit dem Ellenbogen.«
Er stierte mich unverwandt an und kam mir dabei so nah, dass ich an meinem Kinn vorbei auf ihn hinabblicken musste.
»Tolle Frau«, versuchte ich die Lage zu retten, aber er grunzte bloß. »Tolle Ti … Frisur«, fuhr ich fort und wich einen Schritt zurück. »Nichts für ungut!«
Ich wollte mich wegdrehen, aber der Mann wirbelte mich am Arm mühelos herum, stieß mich gegen die Theke und holte aus. Während ich mich noch fragte, ob er jetzt hochspringen oder auf einen der Hocker klettern würde, um mich zu schlagen, sauste seine Faust auf meinen Bauch zu. Ich kniff die Augen zusammen und sah vor meinem geistigen Auge das Gesicht des letzten Glatzkopfs, der mich verprügelt hatte.

Während wir auf den Metallzaun zulaufen, der den Garten des Hauses von der Straße trennt, frage ich mich, wie ich in diese Lage geraten konnte. Aber als Petra dann beginnt hochzuklettern und ich ihr Hilfestellung leiste, indem ich mit beiden Händen gegen ihren festen, runden Po drücke, fällt es mir wieder ein: Testosteron.
Ich habe Petra in der Antifa kennengelernt, und sie ist anders als die anderen Mädchen da. Die sind damit zufrieden, in bunte Schals gehüllt bei Kräutertee beisammen zu sitzen, sich sehr über das Unrecht der Welt zu empören und mit geharnischten Briefen an die Regime dieser Welt die Todesstrafe abzuschaffen. Wenn sie der Aktionismus packt, verfassen sie Flugblätter und verteilen sie knallhart in der Fußgängerszene und selbstverständlich spenden sie jeden Pfennig Erlös der Antifa-Partys einem guten Zweck. Seit ich Kassenwart bin, heißt dieser gute Zweck oft Mofareparatur oder erotische Fortbildungsvideos.
Es ist überdies bezeichnend, dass an unserer Antifa-Clique kein einziger Ausländer beteiligt ist, wenn man von der Halbitalienerin Raffaella absieht. Wir hatten mal einen Afrikaner, aber der wollte lieber mit den Juppies rumziehen, denn die hatten Koks und wir nur billiges Gras.
Petra aber ist eine echte Macherin, die auch schon mal Graffitis auf Behördenwände sprüht oder Chez-Guevara-Plakate an die Polizeiwache klebt und deswegen auch schon eine Vorstrafe hat, obwohl sie dieses Jahr erst zwanzig wird.
Nun also klettern Petra und ich über den Zaun von Schmauchmeisters Wertstoffhof, um dem stadtbekannten Nazi eine Lektion zu erteilen. Wir haben einige Plastikflaschen mit Rinderblut (natürlich Bio) in den Parker-Jackentaschen, mit dem wir Antifa-Parolen an die Wand seiner Lagerhalle schreiben wollen.
Mit einiger Mühe schaffe auch ich es über den Zaun und wenig später ziehen wir den Pinsel über die von Regenflecken graue Wand. »Jeder ist irgendwo ein Ausländer«, schreibe ich und die Buchstaben sehen aus wie die eines Vorschulkindes.
»Verreckt, ihr Nazischweine!«, schreibt Petra in kantigen, aggressiven Lettern, aus denen ihre Verachtung spricht.
»Nazis raus«, schreibe ich und male zur Verdeutlichung meiner Empörung ein großes Ausrufezeichen.
»Wer Hass sät, soll Hass ernten«, schreibt Petra und zeichnet einen Totenkopf dahinter.
Ich kann natürlich nicht zulassen, dass sie mich an Chuzpe übertrifft, schreibe: »Wir hängen euch an euren Hakenkreuzen auf!« und füge nach kurzem Zögern weitere drei Ausrufezeichen hinzu. Erst als ich zufrieden einen halben Schritt zurückgehe, erkenne ich, dass ich »Hackenkreuzen« geschrieben habe. Ich übermale den überschüssigen Buchstaben eilig, aber nun sieht es aus wie »Halkenkreuze«.
Während ich noch nach einer Lösung suche (ich kann das Wort ja schlecht durchstreichen und drüberschreiben), legt sich eine kalte Pranke auf meine Schulter.
»Na, was wird das denn?«, fragt ein Bass, den ich eher im Bauch spürte als höre. »Was sind denn Halkenkreuze?«
Petra ruft: »Scheiße!«, lässt den Pinsel fallen und sprintet davon. »Lauf!«, ruft sie mir noch zu, aber als sich die Hand wie ein Schraubstock um meine Schulter schließt und diese beinahe darin verschwindet, muss ich die Fruchtlosigkeit jedes Fluchtversuches einsehen.
Ich werde herumgedreht und blicke in das vierschrötige Gesicht von Schmauchmeister Junior. Er trägt nur eine enge Boxershorts und Springerstiefel – offensichtlich haben wir ihn geweckt.
»Äh, ich …«, sage ich, und weil ich ihm nicht in die Augen sehen kann, wandert mein Blick über die mit Ranken verzierte Tätowierung auf seiner Brust. Ein Hakenkreuz in einem Kreis, auf dem wiederum ein Adler sitzt. Darunter steht in Frakturschrift: »Meine Ehre heißt Treue«. Als er jetzt drohend die andere Faust hebt, leuchten schwarz auf seiner bleichen Haut die Buchstaben »HASS« von den Fingerknöcheln. Ich lasse meinen Blick an dem Arm entlangwandern, stutze kurz bei dem roten Herz auf seinem Oberarm, über dem in einem mit Rosen verziertes Banner »Mama« steht, und sehe ihm ins Gesicht.
»Dafür muss ich dich leider umbringen!«, verkündet er und im nächsten Moment kracht seine Faust auf meine Nasenwurzel. Der Treffer wirft mich von den Beinen und es wird kurz schwarz. Als ich die Augen wieder öffne, dreht sich Junior gerade weg und hält auf einen Müllcontainer zu, aus dem einige Eisenstangen herausragen.
»Euch werd ich helfen«, murmelt er vor sich hin, während ich mich mit pochendem Gesicht auf die Beine kämpfe. Ich muss weg hier, das ist klar, aber wie? Durch die geschwollene Nase kriege ich kaum Luft.
Als ich mit dem Handrücken das Blut von der Oberlippe wische, kommt mir eine verzweifelte Idee. Ich ergreife eine der Flaschen mit Rinderblut, schraube sie mit zitternden Fingern auf und erwarte Junior, der eine kurze, verrostete Eisenstange immer wieder in seine Handfläche klatschen lässt, während er auf mich zugeht.
»Keinen Schritt weiter!«, fordere ich. »Das hier ist Türkenblut!«
Junior stutzt und bleibt stehen. »Was?«
»Türkenblut! Von einem jüdischen Türken!«
»Willst du mich verarschen?« Er kommt einen weiteren Schritt näher und ich nehme all meinen Mut zusammen und werfe die Flasche mit Wucht auf den Nazi. Er schlägt sie mir der Stange auf der Luft, aber dabei schwappt ein Schwall Blut auf sein Gesicht und seinen Oberkörper.
Ich renne los, sehe mich nicht um, und erreiche den Zaun, ohne dass mich jemand zu Boden gerissen hätte. Hinter mir höre ich Schmauchmeister fluchen. Erst im dritten Anlauf schaffe ich es über den Zaun, keine Sekunde zu früh, denn knapp unter meinen Schuhen knallt der Schläger gegen die Stangen und versucht mich zu packen. Ich springe aus seiner Reichweite, suche eine Sekunde lang nach einem coolen Action-Einzeiler, den ich ihm um die rinderblutverschmierten Ohren hauen kann, aber dann macht er sich daran, ebenfalls über den Zaun zu klettern und ich nehme die Beine in die Hand. Während ich keuchend und mit vor Schmerzen beinahe explodierendem Kopf die Straße entlangrenne, beschließe ich, mich aus dem aktiven Antifa-Dienst zurückzuziehen und Briefe zu schreiben. Irgendjemand muss die Amerikaner ja davon überzeugen, keine Gefangenen mehr hinzurichten. Wenn ich mich da reinknie, sollte das bis Ende des Jahres geschafft sein.

Ich erwartete den Schmerz, aber die Faust traf mich nicht. Stattdessen grunzte der laufende Meter wütend auf, so dass ich es riskierte, kurz zu blinzeln. Eine junge, atemberaubend hübsche Frau stand neben ihm. Sie war in ein blau schillerndes Kleid gehüllt, mit tiefem Ausschnitt und langen, weiten Ärmeln, das mich an Lady Marianne aus dem Disney-Film Robin Hood erinnerte. Dazu passten auch die fuchsroten Haare. Ihre Figur, um die sie jede Eieruhr beneidet hätte, erinnerte dagegen eher an Filme mit einer höheren Altersfreigabe.
Ihre Finger umfassten das Handgelenk des Mannes knapp hinter der Faust, die nur wenige Zentimeter vor meinem Bauch schwebte. Der Mann grunzte noch mal, aber es schien, als sei sein Arm wie versteinert. Die Frau beugte sich zu dem Kleinen herunter, was mir einen tiefen Einblick in ihr Dekolette erlaubte, in dem sich makellose, glatte Haut und die Wölbung ihrer Brüste offenbarte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann wurden die Augen des Mannes glasig, er lächelte dümmlich und senkte die Hand.
»Ja, das machen wir«, sagte er wie in Trance, nahm seine verwunderte Freundin bei der Hand und schob die Glasnudelblonde vor sich her zum Ausgang. »Kennste die Schlampe?«, fragte sein Anhang schrill, aber der Schläger schien es gar nicht zu registrieren.
Während ich dem Geschehen noch nachsah, kam meine Retterin einen Schritt näher, streckte mir eine schlanke Hand hin und sagte mit voller, warmer Stimme: »Veronique!«
Nachdem einige Sekunden vergangen waren, in denen ich sie stumpfsinnig angestarrt hatte, wiederholte sie: »Veronique! Das ist der Moment, wo du meine Hand nimmst und dich vorstellst.«
»Oh, sicher«, sagte ich und ergriff ihre Hand. Das Adrenalin der jüngsten Nahtoterfahrung ließ meine eigene so stark zittern, dass ich ihren Unterarm im Schwingung versetzte. »Klaus«, sagte ich. »Klaus Holger.«
»Klaus-Holger?«, fragte sie.
»Äh, ja. Holger ist der Nachname«, sagte ich und musste einen Großteil meiner Konzentration darauf verwenden, nicht in ihren Ausschnitt zu starren.
»Aha«, sagte sie und löste mit der anderen Hand meine klammernden Finger, um das Händeschütteln zu beenden. Ich zog meine Hand eilig zurück, bemerkte, wie ich rot wurde und erklärte überflüssigerweise: »Klaus ist der Vorname.«
Sie sah mich einen Augenblick mit gerunzelter Stirn an, dann entblößte ein neuerliches Lächeln zwei Reihen makelloser, weißer Zähne. »Ich trinke Gin-Tonic«, sagte sie und legte eine Hand auf meine Schulter.
»Aha«, sagte ich. »Und, schmeckt gut?«
Sie löste die Hand von meiner Schulter, um sich damit die Schläfen zu massieren. »Das wird eine lange Nacht«, murmelte sie und atmete tief durch, was spannende Bewegungen unter dem Kleid auslöste. Dann hob sie den Kopf wieder und sagte, mit einem mittlerweile angestrengten Lächeln: »Du sollst mir einen Gin-Tonic ausgeben!«
»Oh«, sagte ich und endlich holten meine trägen, in Adrenalin und Testosteron getränkten Gedanken die rasanten Ereignisse soweit ein, dass ich wieder handlungsfähig wurde. »Klar, gern«, beeilte ich mich zu erwidern und wirbelte zur Theke herum, um das Gewünschte zu bestellen – und für mich einen großen dreifachen Wodka mit Eis.
Während ich auf die Drinks wartete, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Was wollte so eine Hammerfrau mit einem Typen wie mir? Sicher, die hübschesten Frauen waren oft mit den letzten Krampen zusammen, aber die hatten dann meist Geld. Mein erster Gedanke war, dass Hannes ein Edel-Callgirl für mich bestellt hatte, um sich am nächsten Morgen darüber schlappzulachen. Selbst ich wäre jedoch nicht so dämlich, eine solche Frau zu fragen: »Entschuldige, nur um sicherzugehen: Bist du eine Nutte, die mein Freund auf mich angesetzt hat?«
Also nahm ich die Getränke entgegen, drehte mich um und suchte den Raum ab.
»Danke«, sagte sie, nahm mir das Glas ab und folgte meinem Blick. »Was suchst du?«
»Die Kamera.«
Als sie nur fragend den Kopf schieflegte, erklärte ich: »So eine wunderschöne Frau wie du würde mich doch nie ansprechen. Das muss versteckte Kamera sein.«
Sie lachte und legte eine Hand auf meinen Unterarm, strich sich dann die Haare aus dem Gesicht. »Du bist süß, Holger …«
»Klaus«, verbesserte ich.
»Klaus«, wiederholte sie und kam näher, sah mir tief in die Augen. Im ersten Moment wirkten sie hellgrün, aber je länger ich hineinsah, umso dunkler schienen sie zu werden.
»In dir steckt mehr, als du selbst ahnst«, sagte sie mit kehliger, sinnlicher Stimme und ihre Augen wirkten nun fast schwarz. In meinem Kopf klang ihre Stimme mit einem eigenen Echo nach, rhythmisch untermalt von meinem dumpfen Herzschlag, der nun, nach mehreren Minuten Dauerstakkato, wieder langsamer wurde. »Ich möchte dein Potenzial entfalten.«
Ich biss mir auf die Zunge, bis ich Blut schmeckte, um den in der Luft liegenden Witz nicht zu reißen. Die Schmerzen lohnten sich, denn sie lächelte mir vielsagend zu, nippte an ihrem Drink und leckte sich dann verführerisch über die Lippen.
Ich fühlte mich wie ein Kaninchen, das von der Schlange hypnotisiert wurde. Einer Schlange, die ich um alles in der Welt ins Bett kriegen musste. Der Gedanke an Sex mit Reptilien riss mich weit genug aus meiner Trance, um ein »Danke«, zu murmeln. Ob ich damit in größerem Maße ihr Kompliment meinte, oder zu Gott sprach, der mir diese süße Frucht in den Schoß warf, weiß ich nicht zu sagen.
In diesem Moment schob sich eine Schnurbartspitze in mein peripheres Sichtfeld und Hannes schnarrte: »Geiles Gerät!«
»Äh, Hannes«, stellte ich vor, während sich mein Freund der Hand meiner jungen Verehrerin bemächtigte, einen Handkuss mit bierfeuchtem Schnurrbart darauf presste und »Auschante« sagte. Er meinte enchanté.
»Hannes, das ist …« Mir wurde schlagartig eiskalt. In meinem Magen ballte sich genug Frost zu einem Klumpen zusammen, dass ich meinen Verdauungstrakt als Kulisse für den nächsten Ice-Age-Teil hätte vermieten können. Ich Vollesel hatte doch tatsächlich ihren Namen vergessen.
Hannes sah mich an, die Wunderschöne sah mich an und beide wurden zunehmen ungeduldiger.
»Ihr wollt mich doch wohl verarschen«, schnappte die Frau, sprach dabei aber über die Schulter, als wolle sie jemanden schelten, der in ihrem Rücken stand. Als weitere drei Sekunden ins Land strichen, ohne dass mein schockgefrostetes Hirn auch nur eine Silbe ihres Namens preisgegeben hatte und nun auch jeder Rettungsversuch wie ein »Das ist die Mutter meiner zukünftigen Kinder« vergebens war, seufzte sie, wischte sich den Handrücken am Kleid trocken und sagte: »Veronique. Mein Name ist Veronique.«
»Natürlich«, rief ich und wollte mir mit der Hand vor die Stirn schlagen, benutzte dazu aber die Rechte, die noch immer meinen Wodka hielt. Ich war sehr stolz darauf, dass ich nicht allzu laut schrie, als der Alkohol mir in die Augen spritzte und sich wie Salzsäure darin ausbreitete.
Durch tränende Augen sah ich, wie Hannes der Frau seine Karte zusteckte und ihr beinahe mitleidig die Schulter tätschelte. »Ich bin dann mal weg«, erklärte er mir, während er mir einigermaßen unauffällig einen Hunderter in die Tasche steckte. »Die Mädels glauben mir nicht, dass ich fünf Minuten die Luft anhalten kann.«
»Kannst du doch auch nicht«, sagte ich mit belegter Stimme und rieb mir die Augen.
»Ist doch scheißegal. Hauptsache ich hab die erstmal im Whirlpool.«
Er klopfte mir auf den Arm, ging an mir vorbei, streckte dann aber noch mal den Kopf über die Schulter und flüsterte mir zu: »Wenn die Alte sich jetzt nicht verpisst, dann heirate die!«
Damit war Hannes verschwunden. Ich blinzelte noch einige Male, klopfte mich nach einem Taschentuch ab und nahm auch dies noch von Veronique entgegen, als ich keines fand. Nachdem ich mir ausgiebig die Nase geputzt hatte, ohne mich abzuwenden (schlimmer konnte ich es eh kaum noch machen) und sie aus brennenden Augen anblinzelte, lächelte sie zu meiner Überraschung wieder.
»Du bist echt ein totaler Verlierer«, sagte sie, aber ihre Stimme klang freundlich. »Vielleicht ist das sogar gut so.«
»Ja, ich danke dem Herrn jeden Tag auf Knien dafür«, gab ich etwas pampig zurück.
»Tanzen!«, befahl sie und zerrte mich zu Rhythm Is A Dancer auf die Tanzfläche. Nun tanzte ich schon zu der Musik, die ich mag, bestenfalls wie ein Teddybär mit Kinderlähmung, aber die schnellen Schläge dieser Technohymne überforderten mich völlig. Erst versuchte ich mit den Bässen mitzukommen, was sich anfühlte wie der Grand-mal-Anfall eines Epileptikers, dann wog ich mich zum Gesang, was mir nach wenigen Augenblicken jedoch erheblich zu schwul erschien, wenn ich heute noch bei Veronique landen wollte. Also beschränkte ich mich auf die Grundlagen. Schritt nach rechts, Bein ran, Schritt nach links, Bein ran. Wenigstens klatschte ich dabei nicht.
Veronique hingegen schien auf der Musik zu schweben. Ihre Hüften kreisten, sie fuhr sich durch das Haar, um die Hände dann an ihrem atemberaubenden Körper hinabgleiten zu lassen. Sie drehte sich auf der Stelle, ging leicht in die Knie und warf ihren Kopf dann nach hinten, wobei ihre Haare nur Millimeter vor meinem Gesicht durch die Luft schwirrten und ihren betörenden Duft mitbrachten.
Diese Kombination – bei ihr ein erotisierender Schleiertanz, bei mir Benjamin Blümchen auf Speed – setze sich durch Haddaways What Is Love fort, und als dann auch noch Culture Beats Mr. Vain aufgespielt wurde, bekam ich eine Idee davon, wie sich Prometheus am Felsen gefühlt haben musste. Ich wusste nur nicht, welchen Gott ich angepisst hatte, um so gestraft zu werden.
Endlich wummerte sich das Lied dem Endakkord entgegen und trotz meiner minimalistischen Tanzroutine hatte ich bereits ordentlich zu schwitzen begonnen.
Die ersten Töne von Who wants to live forever ließen mich Atem und Hoffnung schöpfen, doch dann röhrte nicht etwa Freddy Mercury los, sondern Dune trällerte sich in die ersten Verse. Bevor ich endgültig an einen Voodoofluch glauben konnte, glitt Veronique nah an mich heran, schlang ihre Arme um meinen Hals und begann sich sanft zu wiegen.
Ich umfasste sie, widerstand nur mit Mühe dem Drang, sie fest an mich zu pressen, und folgte ihren Bewegungen. Ihr Duft stieg zu mir auf, und als sie ihren Kopf an meine Brust legte, war ich bereit, all mein Hab und Gut an die Armen zu verteilen und in ein Kloster zu ziehen, wenn ich nur dieses eine Mal meine Chancen nicht versaute.
Sie blickte zu mir auf, lächelte verführerisch und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, um für einen winzigen Moment mit ihren Lippen beinahe meinen Mund zu berühren. Doch dann umfasste sie grob meinen Kiefer, drehte meinen Kopf zur Seite und wisperte mir ins Ohr: »Lass uns woanders hingehen!«

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